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Zweiter Austausch zum Tierarztmangel in Wörlitz

05.10.2023

Sieben Maßnahmen wider den Tierärztemangel haben rd. 60 Vertreter:innen der Veterinärbranche aus Kammern, Verbänden, Praxis und Industrie Ende September auf Einladung des Dessauer Zukunftskreises (DZK) in Wörlitz diskutiert – und konkrete Schritte auf den Weg gebracht. Keine Maßnahme wird allein den Tierarztmangel und damit eine angemessene tierärztliche Rund-um-die-Uhr-Versorgung der Haus- und Nutztiere sicherstellen können. Aber in der Addition könnten sie zügig umgesetzt bereits kurzfristig Verbesserungen bringen. Ein Überblick:

Notdienstberuf braucht Arbeitszeitflexibilisierung

Für den Notdienstberuf Tierarzt ist das enge Korsett des Arbeitszeitgesetzes mit acht bzw. in Ausnahmen max. zehn Stunden Arbeitszeit gefolgt von mindestens elf Stunden Ruhezeit absolut ungeeignet. Darüber herrscht Einigkeit. Doch der Weg zu einer Arbeitszeitflexibilisierung wird in der Branche – und so auch in Wörlitz – intensiv diskutiert. Aktuell haben der Bundesverband praktizierender Tierärzte (bpt), die Bundestierärztekammer und 16 Landestierärztekammern einen gemeinsamen Appell an die Politik gerichtet, das Arbeitszeitgesetz anzupassen (Lockerung der Tages-Höchstarbeitszeit bei unveränderter Wochenhöchstarbeitszeit).

Arbeitsbedingungen und Tarifvertrag – angestellte Tierärzte in den Praxen bald in der Mehrheit

Der andere, branchenintern zu gehende Weg wäre ein Tarifvertrag. In diesem kann man flexible Arbeitszeiten vereinbaren. Er regelt dann auch weitere Arbeitsbedingungen, zum Beispiel Gehalt und Überstundenvergütung, Urlaubstage und Teilzeitfragen. Viele Praxisinhaber:innen fremdeln noch mit diesem Weg.

In der Realität gibt bereits jetzt in sechs von 17 Landestierärztekammern weniger Praxisinhaber:innen als in den Praxen angestellte Tierärzt:innen. Darunter in großen Bundesländern wie Niedersachsen und NRW. Spätestens 2024 wird sich das bundesweite Zahlenverhältnis umgekehrt haben und dann durch den Demographischen Wandel (Stichwort Baybboomer-Rente der Praxisinhaber:innen) rasant zu Gunsten der Angestellten Tierärzt:innen verändern. Parallel wächst die Zahl der nichttierärztlichen Arbeitgeber (Corporates). Die steigende Nachfrage in Tierarztpraxen, kann momentan nur durch die stetig steigende Zahl angestellter Tierärzt:innen bedient werden

Die Branche muss also eine Balance finden zwischen selbständiger Berufsausübung in Freier Praxis und verlässlich attraktiven Rahmenbedingungen für die angestellten Tierärzt:innen. Es gilt sie sie möglichst in Vollzeit im Beruf zu halten. Das umfasst Vergütung, (Arbeitszeit)Flexibilität, Kompetenzen, Wertschätzung und vieles mehr.

Die DZK-Arbeitsgruppe „Arbeitsbedingungen“ hat hierzu eine Übersicht an Umsetzungstips für Praxisalltag und eine „Checkliste“ entwickelt, die demnächst auf tierarztmangel.de veröffentlicht wird.

Die Stille Reserve – Wiedereinsteiger:innen gezielt fördern

Wie groß die Zahl potentieller Wiedereinsteiger:innen tatsächlich ist, weiß niemand genau. Je nach Datenlesart gibt es ein Potential von 2.000 bis 4.000 approbierten Tierärzt:innen, die zumindest zeitweise dem Beruf den Rücken gekehrt haben. Möglichst viele zurückzugewinnen und künftig im Beruf zu halten, ist ein vergleichsweise „einfacher“ Weg, den Tierärztemangel zu bremsen – und zugleich eine kontinuierliche Aufgabe. Denn bei einem Frauenanteil unter den Tiermedizinstudierenden von rd. 88 Prozent waren in den vergangenen zehn Jahren jährlich zwischen 800 und 900 Tierärztinnen in Elternzeit. Ihnen können und sollten die Arbeitgebenden bedarfsgerechte Rückkehrangebote nach/in der Familienphase machen.

Stichworte sind: Attraktives Einkommen als Grundlage für die Entscheidung weiter im Beruf zu bleiben; die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch verlässliche, kompatible Arbeitszeiten sowie eine verfügbare Kinderbetreuung und eine generelle Wertschätzung von Care Arbeit. Auch ein Tarifvertrag könnte die nötige Motivation und Sicherheit geben, wieder in den Beruf einzusteigen.

Im ersten Schritt sollte die Branche das Informationsangebot für „Wiedereinsteigerinnen“ und ihre Arbeitgebenden verbessern, indem sie Informationen über bestehende Angebote (z.B. Wiedereinsteigerkurse / FAQ „Wie gelingt der Wiedereinstieg“) zentral bereitstellt. Außerdem gilt es die Datenlage über die Zielgruppe zu verbessern und ggf. direkte Ansprachemöglichkeiten über die Kammern zu schaffen. Genauso wichtig ist es, dass der Kontakt der Arbeitgebenden zu den Mitarbeiterinnen während der Elternpause gar nicht erst verloren geht.

Ausländische Tierärzt:innen schneller integrieren

Eine weitere, unmittelbar für den Arbeitsmarkt verfügbare Gruppe, sind Tierärzt:innen aus dem (europäischen) Ausland. Im neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist die Tiermedizin jetzt offiziell als „Mangelberuf“ eingestuft. Als solcher soll sie von schnelleren Zulassungsverfahren profitieren können. Doch in der Realität ist selbst für EU-Tierärzte, die eigentlich Niederlassungsfreiheit genießen, der Weg zur Berufsausübung in Deutschland keineswegs einfach: Unterschiedliche Anlaufstellen in 16 Bundesländern, intransparente und zum Teil unnötig lange Verfahren, schrecken Interessenten ab.

Die DZK-Arbeitsgruppe „Fachkräfteintegration“ hat diese Missstände benannt und empfiehlt dringend eine zentrale Anlaufstelle einzurichten, die mehrsprachig(!) Wege durch den Behördendschungel aufzeigt. Notwendig ist auch ein bundeseinheitliches Verfahren für die Kenntnisprüfungen, die von Nicht-EU-Tierärzt:innen zur Erlangung der Approbation abzulegen sind.

Die Sprachhürde ist dabei ein große Hindernis für ausländische Tierärzt:innen. Momentan ist zur Kenntnisprüfung und Berufsausübung das Sprachniveau ‚Deutsch B2‘ verpflichtend. Hier sollte ‚Englisch B2’ als gleichwertig anerkannt werden. Das würde Deutschland auch im Wettbewerb mit anderen Ländern gleichsetzen.

Die Webseite VetWorkGermany.com stellt entsprechende Informationen in Deutsch und Englisch zur Verfügung. Mitglieder des DZK haben außerdem bereits die Projekte support4vetmed.de (Vorbereitung auf die Approbationsprüfungen für Tierärzt:innen aus Drittländern) und deutschkurs-tieraerzte.com mitentwickelt.

Aktueller Bericht zum Thema im Praktischen Tierarzt – Ausgabe 9/2023

Kompetenzen für Tiermedizinische Fachangestellte (TFA) erweitern

Gleich zwei zwei Berufsgruppen können von erweiterten TFA-Kompetenzen profitieren: Die Tiermedizinischen Fachangestellten selbst, weil es ihnen neue Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung eröffnet. Auch dort gibt es einen Fachkräftemangel, zu viele TFA verlassen Beruf. Für Tierärzt:innen in den Praxen wird Arbeitszeit frei, wenn TFA mehr Aufgaben übernehmen (dürfen).

Deshalb gilt es kurzfristig die (bestehenden) Aufstiegsfortbildungen und Weiterbildungen bekannter zu machen. Außerdem sollten die Anbieter vernetzt werden und an gemeinsamen Curricula und Standards arbeiten.

Auch der zwischen bpt und dem Verband der Medizinischen Fachangestellten erarbeitet neue „Delegationsrahmen“ muss bekannter und eingesetzt werden.

Für die berufliche Weiterentwicklung bieten sich zwei Wege an: Einer zielt auf breitere medizinische Einsatzgebiete für TFA. Der andere eröffnet Wege ins Praxismanagement. Beides wird aktuell besonders in Großbritannien und den USA aktive vorangetrieben.

Außerdem sollte die zuletzt 2006 überarbeitete Ausbildungsordnung der TFA modernisiert und an die aktuellen Berufsanforderungen angepasst werden.

Der Tierärzte-Atlas – erster Schritt zu „besseren“ Daten

Mit den vorhandenen tierärztlichen Strukturdaten (u.a. Deutsche Tierärztestatistik) lässt sich tatsächliche „Versorgungslage“ in Deutschland nicht abbilden. Um den entsprechenden Bedarf an Tierärzt:innen in Zukunft zu kennen bzw. besser abschätzen zu können, müssen mehr Daten zur Verfügung stehen. Hier sind die Tierärztekammern gefordert, bei ihnen vorhandene Daten (z.B. Alterstruktur der Tierärzteschaft) genauer auszuwerten und ggf. neue Daten zu erheben (z.B. Umfang der Teilzeitarbeit / regionale Abdeckung nach Tierart).

Parallel wird der DZK ein Konzept für einen „Tierärzteatlas“ vorlegen, in dem mit Unterstützung aus der Branche die bereits jetzt verfügbaren Daten attraktiver und aussagekräftiger aufbereitet werden. Das Projekt orientiert sich am französischen „Atlas Demographique de la Profession Vétérinaire“ (Link).

Öffentlichkeitsarbeit – einen schönen Beruf realistisch beschreiben

Es gibt viele Interessenten für das Tiermedizinstudium. Dennoch ist eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit nötig, die ein realistisches Bild des tierärztlichen Berufs mit all seinen Höhen und auch Tiefen abbildet, um die „richtigen“ Bewerber:innen für das Studium anzusprechen. Dazu wurde die Webseite www.beruftierarzt.de eingerichtet. Ein gleichnamiger Instagram-Kanal ist in Vorbereitung.

Der DZK lädt Kolleginnen und Kollegen aus allen tierärztlichen Berufsfeldern ein, beide Formate mit Leben zu füllen, in dem sie Situationen und Eindrücke aus dem Berufsalltag beisteuern (Texte, Videos, Audio-Snipets kontakt@dessauer-zukunftskreis.de).

Für die professionelle Betreuung der Kanäle ist jedoch perspektivisch die Einbindung eines professionellen Dienstleisters notwendig. Dies müsste entsprechend finanziert werden.

Tagungsbilanz

Ausgezeichnet haben das Treffen nicht nur die gut vorbereiteten und aufgearbeiteten Inhalte und die fruchtbaren Diskussionen, sondern auch die freundlich-konstruktive Stimmung, mit der sich alle Beteiligten begegnet sind. Einmal mehr wurde deutlich, wie ernst die Lage und wie groß bereits teilweise die Versorgungslücken durch Tierärzt:innen in Deutschland sind und in absehbarer Zeit noch werden.

Klar ist: Es müssen Lösungen her und zwar möglichst rasch, um auch weiterhin dem Staatsziel Tierschutz durch eine angemessene tierärztliche Versorgung der Haus- und Nutztiere und zwar bei Tag und bei Nacht, gewährleisten zu können. Aber nicht nur im kurativen Bereich besteht ein Mangel an Tierärzt:innen. Dies betrifft auch den Öffentlichen Dienst mit der Lebensmittelsicherheit und dem Tierschutz sowie den Bereich Lehre und Forschung.